PRISONERESK
- PRISONERESQUE
Von
medienjournalist Harald Keller, autor einer erfolgreichen
buchreihe über fernsehserien (mehr...),
dessen beiträge häufig in der Frankfurter Rundschau zu
lesen sind, erreichte mich eine
e-mail zur fernsehserie NOWHERE
MAN im zusammenhang mit
dem prisoneresken
aspekten in serien und filmen, über die hier
mehr zu lesen ist. Meine bemerkungen, schrieb er, seien doch "sehr
kritisch" und würden dieser serie nicht gerecht. Eingeladen,
das bild gerade zu rücken, gab Herr Keller sein einverständnis
zur veröffentlichung des nachstehenden textes über NOWHERE
MAN. Dafür herzlichen dank!
Jede
weitere verwendung, privat oder gewerblich, bedarf der genehmigung
des autors.
Von
Harald Keller
Vom
ersten Moment an ist äußerste Aufmerksamkeit geboten.
Nicht zufällig beginnt der Pilotfilm mit einem ausgiebigen
Blick auf ein Reportagefoto. Es trägt den Titel "Hidden
Agenda" und zeigt offenbar ein Kriegsverbrechen. Die Besucher
der Vernissage sind äußerst angetan von den Exponaten,
allein Tom Veil, der Fotograf der Bilder, fühlt sich unbehaglich
inmitten des Geraunes und Geplauders der Kunstmarktschickeria. Er
überredet seine Ehefrau, die Ausstellung vorzeitig zu verlassen.
Sie wechseln in ihr Stammlokal.
Vail zieht sich kurz auf die Herrentoilette zurück, um eine
Zigarette zu rauchen. Als er zurückkommt, hat sich die Welt
für ihn verändert: Seine Frau ist verschwunden, an ihrem
Tisch sitzt ein älteres Ehepaar, der Wirt scheint Vail nicht
mehr zu kennen und lässt ihn vor die Tür setzen. Vail
trifft seine Frau zu Hause an, wird von ihr jedoch wie ein Fremder
behandelt und von ihrem angeblichen Ehemann mit der Waffe bedroht.
Weitere Rätsel tun sich auf: Vails Kreditkarte ist ungültig,
die Schlösser seiner Ateliertüren wurden ausgetauscht,
ein brisantes Foto ist aus der Ausstellung verschwunden. Vail sucht
die Hilfe eines engen Freundes und findet dessen Leiche. Anderntags
stellt er seine Frau zur Rede. Die gibt zunächst an, auf Befehl
gehandelt zu haben, verrät ihn dann aber an die Polizei. Vail
landet in einer psychiatrischen Abteilung.Hier und nach gelungener
Flucht stößt er auf Hinweise, daß er Opfer einer
großangelegten Verschwörung wurde, die mit jenem spektakulären
Foto zu tun hat, dessen Negativ sich noch immer in Vails Händen
befindet ...
DAS
FOTO HIDDEN AGENDA - URSACHE FÜR TOM VAILS UNGEMACH
Fünfundzwanzig
Episoden lang wird Tom Vail vor seinen ominösen Häschern
davonlaufen und, beileibe nicht ohne Selbstzweifel, bemüht
sein, Belege für seine radikal ausgemerzte frühere Identität
zu finden.
NOWHERE MAN ist eine komplexe Serienerzählung, deren vertüftelte
Machart sich erst in Kenntnis des äußerst bizarren Finales
angemessen würdigen läßt. Augenfällig und durchaus
gewollt waren Parallelen zu Serienklassikern wie AUF DER FLUCHT
(THE FUGITIVE, USA 1963-1967) und NUMMER SECHS (THE PRISONER, GB
1967-1968), aber auch zu Kinofilmen wie BLOW UP (BLOW-UP, GB/I 1966)
und, im Pilotfilm von POLTERGEIST-Regisseur Tobe Hooper unübersehbar
zitiert, DER UNSICHTBARE DRITTE (NORTH BY NORTHWEST, USA 1959).
Der
Rekurs auf typische Sujets der sechziger Jahre schien nicht zufällig.
Viele der in der zweiten Hälfte der Neunziger entstandene "Mystery"-Serien
hatten Entsprechungen in jener Epoche, als sich die u. a. durch
das Kennedy-Attentat, die Eskalation des Vietnamkriegs und die damit
einhergehende Protestbewegung ausgelöste gründliche Verstörung
der US-amerikanischen Gesellschaft auch in den TV-Serien abbildete.
In AUF DER FLUCHT wurde ein saturierter Biedermann von einem Moment
auf den anderen um seine bürgerliche Existenz gebracht und
zu einem Leben in der Illegalität gezwungen, in INVASION VON
DER WEGA (THE INVADERS, USA 1967-1968) focht ein Einzelner einen
schier aussichtslosen Kampf gegen Außerirdische, die sich
doch längst im System festgesetzt hatten.
Neu hingegen war das in vielen Serien anklingende - und mit einschlägigen
Umfragen korrespondierende - Misstrauen gegenüber Geheimdiensten
und anderen Institutionen. Waren beispielsweise in Serien wie KNIGHT
RIDER (USA 1982-1986), MACGUYVER (USA 1985-1992) oder E.A.R.T.H
FORCE (USA 1990) die sogenannten "Foundations", die in
den USA häufig gemeinnützige Aufgaben übernehmen,
Garanten für Fortschritt und Gerechtigkeit, so gaben vergleichbare
Organisationen in jüngeren Serien wie PRETENDER (USA 1996-
) , AKTE X (THE X-FILES, USA 1993), DARK SKIES - TÖDLICHE BEDROHUNG
(DARK SKIES, USA 1996-1997) und eben auch NOWHERE MAN einen anonymen,
kaum fassbaren Feind ab, der weitgehende Kontrolle auszuüben
in der Lage ist, wobei gemeinhin offenbleibt, ob dies in Opposition
zur gewählten Führung oder in deren Auftrag geschieht.
Wie einst Richard Kimble, so wird der heimatlose Tom Vail kreuz
und quer durch die USA getrieben. Unter Hobos und Ausgestoßenen
lernte Kimble die Kehrseite des ,american dream' kennen, und auch
Vail muss, Frank Capra widerlegend, erfahren: "It's Not Such
A Wonderful Life". So lautet der Titel von Episode 12, dem
manch ein von der Wirtschaftskrise gebeutelter US-Zuschauer unbesehen
zugestimmt haben dürfte.
Anmerkungen:
Von
1986 bis 1988 gehörte Bruce Greenwood zum Ensemble der Krankenhausserie
CHEFARZT DR. WESTPHALL (ST. ELSEWHERE, USA 1982-1988). Seine zahlreichen
Spielfilm-Credits umfassen die Hauptrolle in Atom Egoyans EXOTICA
(KAN 1993) und die Rolle des Stuart Ramsey in dem Action-Film PASSAGIER
57 (PASSENGER 57, USA 1992). Greenwood ist außerdem Musiker
und unterhält ein kleines Tonstudio.
Mit
der Episode "Ein Apfel im Paradies" ("Paradise On
Your Doorstep") zollte Lawrence Hertzog den Schöpfern
der Kultserie NUMMER SECHS Tribut, erklärtermaßen eine
seiner Inspirationsquellen. Wie einst der Geheimagent ohne Namen,
wird auch Tom Veil in ein pittoreskes Städtchen verbracht,
hinter dessen Fassade aus Harmonie und Glückseligkeit Tyrannei
und Terror lauern. In der Folge "Willkommen in der Hölle"
("Heart of Darkness") gerät Veil in das Ausbildungslager
einer rechtsradikalen Miliz. Jeder Rekrut erhält anstelle seines
Namens eine Nummer -- aus Veil wird -- sic! - Nummer sechs.
NOWHERE
MAN erzielte anfangs hohe Einschaltquoten, sank dann aber sehr rasch
in der Gunst der Zuschauer. Viele Fans sind der Serie über
deren Einstellung hinaus treu geblieben. Bereits während der
Ausstrahlung wurde Lawrence Hertzog mit Bitten um Hinweise auf die
Lösung des Rätsels regelrecht bestürmt. Obwohl Tom
Veils Geheimnis längst enthüllt ist, wird, vor allem im
Internet, nach wie vor heftig über Finten, versteckte Fingerzeige
und andere Finessen der Serie debattiert.
Lawrence
Hertzogs Konzept sah vor, auf eine herkömmliche musikalische
Untermalung zu verzichten und sie durch eine Collage aus Alltagsgeräuschen
zu ersetzen. Mit dieser Aufgabe wurde Mark Snow betraut, der als
Komponist wesentlichen Anteil am Erfolg von AKTE X hatte.
Harald
Keller: "Kultserien und ihre Stars" (Reinbek 1999)
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No English version of this article available, sorry! It's about journalist Harald Keller's objection to the judgment of the TV series NOWHERE MAN which he felt was inadequate, an article published in his book "Kultserien und ihre Stars." |