FRANZ
KAFKA
Deutscher
schriftsteller, 1883 in Prag geboren, gestorben 1924 an den folgen
der tuberkulose.
Nach einem kurzen germanistik-, sodann jura-studium mit abschließender
promotion arbeitete Kafka bis kurz vor seinem tod bei einer versicherung.
Der großteil seines schaffens wurde erst nach seinem tod veröffentlicht.
Entgegen seinem wunsch hatte sein freund und nachlassverwalter Max
Brod, durchaus nicht ganz uneigennützig, die manuskripte nicht
vernichtet. Die Kafka-forschung hat jahrzehnte später gezeigt,
dass er sie auch stärker editiert hatte, als ihnen gut tat.
Seine erzählungen, kurzgeschichten und romane lassen sich kaum
einer der gängigen kategorien zuordnen, sind zugleich fabeln,
parabeln, allegorisch, symbolisch und doch oft in höchstem
maß von realistischer klarheit wie frühe filmdokumente
der brüder Lumière. Es gibt darin keine gespenster oder
monster und doch mehr als nur metaphorische verwandlungen, die eines
David Cronenberg würdig sind, es gibt unheimliche orte, die
auf geheimnisvolle weise mit (allen) anderen in verbindung stehen,
und die doch nicht lokalisierbar sind, oft bevölkert von dienern
und dienstmädchen, die eine seltsamen anziehungskraft entwickeln.
Und schließlich spielt die bürokratie immer wieder eine
gewisse rolle.
Außer seinem - fiktionalen? - werk besteht
sein nachlass aus briefen, die er wie wucherungen hervorbrachte,
vor allem an seinen vater, vielleicht auch nur eine vaterfigur, und seine (reale?) freundin.
MEHR: PRISONERESK
EPISODE DIE ANKLAGE
LARRY HALL: DER PROZESS
Kafka
hat die literaturwissenschaftler und -exegeten immer wieder fasziniert
und zu interpretationen herausgefordert, die in den meisten fällen
mehr über die interpretatoren aussagen als über den autor
bzw. den literarischen gegenstand selbst. Tausendfach ist darin
vom Ödipus-Komplex die rede, seinem wirklich schwierigen verhältnis
zu seinem vater, seinen beziehungen zu frauen, zu Gott selbst, von
metaphysischer, mystisch-religöser schuldarbeit.
In seinen "Aufzeichnungen zu Kafka" (1969) drückt der Frankfurter sozialphilosoph Theodor W. Adorno es so aus: "Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden."
Zu
Kafkas bekanntesten erzählungen gehören "Das Urteil"
(1913), "In der Strafkolonie", "Ein Landarzt"
(beide 1919), "Bericht für eine Akademie"
(1917), in satirischem stil von einem affen gehalten, und "Die
Verwandlung" (1915), worin die hauptfigur Gregor Samsa
eines morgens entdeckt, dass er sich in ein insekt verwandelt hat.
Bei den romanen sind es vor allem der unvollständig gebliebene
"Das Schloss" und "Der Prozess",
letzterer posthum 1925 veröffentlicht und 1962 von Orson
Welles mit Anthony Perkins, Jeanne Moreau und Romy Schneider
kongenial zu einem film verarbeitet, der begriff verfilmt verbietet
sich.
Von Steven Soderbergh gab es 1992 den film KAFKA, mit Jeremy Irons,
der zwar einige bilder und motive versammelt, insgesamt aber eine
mäßige fantasy-komödie ist.
Ein seelenverwandter unter den schriftstellern der 50er und 60er
jahre ist ferner der Amerikaner Philip K. Dick, gestorben 1982 kurz
nach der premiere des films BLADE RUNNER, für den er die romanvorlage
geliefert hatte.
Kafka war aber offensichtlich weniger beeindruckt von Filmhandlungen (entsprechende Äußerungen fehlen in seinen Schriften); vielmehr geben seine Texte selbst eine filmtechnische Sichtweise wieder. Sein Erzählen entwickelt seinen besonderen Charakter durch die Verarbeitung filmischer Bewegungsmuster und Sujets. Es lebt aus den grotesken Bildfolgen und Übertreibungen des frühen Kinos, die literarisch verdichtet hier sprachlich auftreten. Der Film ist in Kafkas Geschichten allgegenwärtig: im Rhythmus des großstädtischen Verkehrs, in Verfolgungsjagden und Doppelgänger-Szenen und in Gebärden der Angst. [Wikipedia, 17.11.2013]
Mehr
als ihm wahrscheinlich bewusst war, ist Alex Proyas' film DARK CITY (1997) gerade ohne das visuelle am literarischen werk Kafkas nicht vorstellbar.
Ganze gebäudereihen verschieben sich da gegeneinander, drängeln
sich wolkenkratzer zwischen anderen in die höhe, schäbige hinterhofeingänge
verwandeln sich peu à peu in herrschaftliche entrées und hintertüren
tun sich auf, wo eben noch eine backsteinwand war. Das gefühl für
distanzen geht verloren, weit entferntes liegt plötzlich gerade mal
um die ecke. Was für bauwerke gilt, trifft auch auf menschen zu, die
verschwinden entweder - und sei es aus dem gedächtnis ihrer mitmenschen
- oder werden zu anderen persönlichkeiten "getuned",
wie es im film heißt.
DARK CITY ist in seiner ausgangsprämisse verstörend faszinierend,
mit aufregenden bildern und einstellungen, inhaltlich leider ziemlich verquaster,
kindischer unfug, dem durch den auftritt der außerirdischen noch die
trash-krone aufgesetzt wird.
KONTINUITÄT - kontinuierlich:
das zusammenhängend
sich erstreckende
KONTIGUITÄT - kontingent:
das nebeneinander
liegende, benachbarte,
sich berührende
Dies
ist die höchst überraschende Topographie bei Kafka, die keineswegs
nur "im Geiste" besteht: Zwei diametral entgegengesetzte Punkte
erweisen sich, seltsamerweise, als eng benachbart. ... Zwei Blöcke
auf einer unbegrenzt-kontinuierlichen* Linie, deren Haupteingänge sehr
weit voneinander entfernt liegen, haben gleichwohl eng aneinander liegende
Hintertüren, durch die sie selbst in eine Kontiguität* geraten.
... Versuchen wir nun, die zwei Stadien dieser Architektur knapp zu skizzieren:
Erstes
Stadium |
Zweites
Stadium |
Ansicht
von oben oder unten, Treppen |
Ansicht
von vorn, vom Korridor, niedrige Decke |
Luftaufnahmen
und Gegeneinstellungen |
Weitwinkelaufnahmen
in die Tiefe des Feldes |
Diskontinuität
der Bogenblöcke |
Unbegrenztheit
des immanenten Korridors |
astronomisches
Modell |
irdisches
oder gar unterirdisches Modell |
Distanz
und Nähe |
Ferne
und Kontiguität |
Betonen
wir zunächst, daß die beiden Architekturstadien tatsächlich
verschieden sind, sich aber gegenseitig durchdringen können. Sie sind
verschieden, da sie zwei verschiedenen Bürokratien entsprechen: der
alten und der neuen, der traditionellen chinesischen, kaiserlichen und despotischen
Bürokratie und der modernen kapitalistischen und sozialistischen Bürokratie.
... Kafka selbst steht im Treffpunkt beider Bürokratien: Die Versicherungsanstalt,
in der er arbeitet, besorgt die Angelegenheiten eines fortgeschrittenen
Kapitalismus, hat aber selbst die archaische und bereits überholte
Struktur, die dem alten Kapitalismus und der traditionellen Bürokratie
entspricht. ...
Gilles
Deleuze/Félix Guattari, Kafka - Für eine kleine Literatur, s.
101f


Das
alles erklärt vielleicht die glückliche Begegnung zwischen Kafka
und Orson Welles. Der Film hat zur Architektur eine tiefere Beziehung
als zum Theater (Fritz Lang war Architekt). Bei Orson Welles gab es immer
zwei koexistierende architektonische Modelle, die er sehr bewußt verwendete.
Das erste ist das der glanzvollen Aufstiege und Niedergänge: Archaismen
mit ganz aktuellen Funktionen, Auf- und Abstiege über endlose Treppen,
Einstellungen von oben oder von unten. Das zweite ist das der weiten Winkel
und tiefen Felder, der unbegrenzten Korridore, zu denen sich eng aneinander
gereihte Querräume öffnen. CITIZEN KANE oder THE SPLENDOUR OF
THE AMBERSONS bevorzugen das erste, THE LADY OF SHANGHAI das zweite Modell.
DER DRITTE MANN, bei dem Welles nicht einmal selbst als Regisseur firmierte,
vereinigt die beiden Modelle zu der erwähnten erstaunlichen Mischung:
die archaischen Treppen, das senkrecht in den Himmel ragende Riesenrad und
die rhizomartige Kanalisation dicht unter der Erde mit dem langen Hauptkanal
und den eng aneinandergereihten Seitengängen. Immer wieder die endlose
paranoische Spirale und die grenzenlose schizoide Gerade. Noch besser hat
Orson Welles diese beiden Bewegungen in seiner Verfilmung des PROZESS kombiniert:
Die Szene mit Titorelli und den Mädchen, der lange hölzerne Korridor,
die weiten Fernen, die plötzlichen Kontiguitäten, die Fluchtlinien
- all das bezeugt die erstaunliche Affinität zwischen Welles und Kafka.
Gilles
Deleuze/Félix Guattari, Kafka - Für eine kleine Literatur, s.
101f
Der film entstand unter auch finanziell schlechten umständen zunächst in Zagreb, dann in Paris. Im filmischen wie im literarischen PROZESS stirbt K. am ende. Welles
jedoch hielt nicht allzu viel von Kafkas schreiben und die figur für
schuldig, während alles bei Kafka ambivalent ist und bleibt.
Grafiken von Arno Baumgärtel nach der vorlage in: Gilles Deleuze/Félix
Guattari, Kafka - Für eine kleine Literatur, deutsch 1976, Frankfurt/M.
edition suhrkamp |
Was
das alles mit NUMMER 6 zu tun hat?
Ganz sicher ist die von Patrick McGoohan gespielte hauptfigur, die
wir nur als mensch mit einer zahl als namen kennen lernen, ein moderner
vertreter des kafkaschen universums, das als kafkaesk zu
bezeichnen man sich angewöhnt hat. Ganz so wie es filme mit
dem Hitchcock- oder Lubitsch-touch gibt.
In
seinem roman "Das Schloss" wie auch im "Prozess"
gibt es den (fast) namenlosen, nur als "K." bezeichneten
protagonisten. Im "Schloss" findet der - ausgerechnet
- landvermesser K. sich auf unüberschaubarem terrain wieder,
innerhalb labyrinthischer strukturen und orte, und muss sich dort
behaupten.
Im "Prozess" wird die figur K. eines morgens von ordnungskräften
verhaftet, ohne ersichtlichen grund angeklagt und anschließend
auf freien fuß gesetzt. Ein ordentlicher prozess kommt durch
augenscheinliche verschleppung nie zu stande.
Das drehbuch der NUMMER-6-episode "Die Anklage/Dance Of The
Dead" ist deutlich, wenn nicht vom roman, dann von Orson Welles' film beeinflusst worden. Dafür sprechen einige schauplätze
sowie identisch aufgelöste einstellungen. Entsprechende motive
tauchen in anderen episoden auf wie in "Die Ankunft" oder
etwa in "Schachmatt".
Statt
eines resümierenden schlusssatzes die aufforderung, Kafka (wieder)
zu lesen, und der hinweis auf ein unterschätztes buch der autoren
Gilles Deleuze und Félix Guattari: "Kafka. Für eine kleine Literatur"
(Kafka. Pour une
littérature mineure"), den enfants terribles
der zeitgenössischen französischen philosophie der 80er
jahre; ihr zentralwerk: der grandiose "Anti-Ödipus", erschienen in der edition suhrkamp, Frankfurt/Main 1976.
FRANZ
KAFKA
German
novelist, born 1883 in Prague, died 1924 as a result of tuberculosis.
 |
Having studied German for a while he went on to study law and do
a doctorate after which he worked with an insurance company until
shortly before he died. The large part of his literary work was
published only after his death. Contrary to Kafkas last will and
not at all totally unselfishly Max Brod, his friend and executor
of his inheritence, had not destroyed all of his writings. Evidence
for more than marginal editoral changes made by Brod was uncovered
decades later by the Kafka research. Kafka
has always been a fascination and a challenge to scientists and
commentators. His work has provoked interpretations which often
are more likely to tell about their author than about the literary
subject. Mostly it's about the Oedipal complex, Kafka's really troubled
relationship to women, about God himself, guilt, the working on
metaphysical and mystical-religious guilt.
As German social pilosopher Theodor W. Adorno put it in his "Notes on Kafka" (1969): "Each sentence says: interpret me but none wants to have it done."
MORE: PRISONERESQUE (GERMAN, PARTY ENGLISH)
EPISODE DANCE OF THE DEAD
LARRY HALL: THE TRIAL (GERMAN LANGUAGE)
Kafka's stories and novels hardly match the usual categories of
the literary business. They are fables, parables, allegorical and
symbolic and at the same time they are written clearly and kept
in realistic images to the highest degree possible not unlike early
Lumière Brothers documentaries. There aren't ghosts or monsters
in them. But the transformations are more than metaphoric and worth
of one David Cronenberg. Uncanny places that cannot be tracked down
are mysteriously connected to one another, often populated with
(maid) servants of strange attractive powers. And, not least, bureaucracy
does often play a significant role.
Beside his - fictitious? - work he used to
write letters, proliferously they were brought forth, to his
father, if that's what he is or merely a father figure, and his (real?) girl friend?
Among
his best known short stories are "The Judgment"
(1913), "In the Penal Colony","A Country
Doctor" (both 1919); "Report to an Academy"
(1917) held in satire-style by an ape, and "The Transformation"
(1915) in which main character Gregor Samsa one morning discovers
he's turned into an insect. Among the novels it's the unfinished
"The Castle" and "The Trial"
published posthumously in 1925 and adapted virtuosly for a film
in 1962 by Orson Welles, with Anthony Perkins, Jeanne Moreau
and Romy Schneider (more...).
In 1992 Steven Soderbergh released the movie KAFKA, starring Jeremy
Irons, that combined some images and ideas but was, in fact, only
a fantasy comedy.
Furthermore, mental affinity among the novelists of the 1950s and
60s is shared by American writer Philip K. Dick who died in 1982
only shortly after the movie BLADE RUNNER had premiered in the theatres,
the original novel written by Dick.
So,
what's that got to do with THE PRISONER?
For sure, the main character, played by Patrick McGoohan, who we
only get to know as the human with a number for his name is a modern
type out of the Kafka universe that we've come to be familiar with
as kafkaesque. Quite the same way as there is the Hichcock-touch
or the Lubitsch-touch in movies.
In
his novels "The Castle" and "The Trial"
there is an almost nameless character known as "K." In
"The Castle" it's just land surveyor K. who finds himself
on unkown territory and entrapped within inexplicable and labyrinthine
structures and places he has to cope with. In "The Trial"
K. one mornig and unsuspectingly is arrested by official forces,
accused of violation of the law he is never exactly revealed and
then set free. But the trial, he soon learns, is protracted endlessly.
There's no English translation for the box contents!
For further reading: Gilles Deleuze/ Félix Guattari,
Kafka: Towards a Minor Literature.
Minneapolis, MN: University of Minnesota, 1975
The script of the PRISONER episode "Dance Of The Dead"
is clearly influenced if not by the novel itself then by the Orson
Welles movie. This fact is displayed in the setting of scenes as
well as in almost identical shots. Further hints can be found for
example in "Checkmate" (more...).
As
a conclusion I'd like to propose the reading of Kafka (again)!
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