Gießener Gesichter Paare Bahnhofstraße/Reichensand

 

Juli 1981: Nur gut drei Monate nach der dreisten, illegalen Abrissaktion des Hauses Flutgraben 4 tat sich der Gießener Magistrat erneut unrühmlich hervor. Aus dem unter dem Namen Samen-Hahn bekannten Anwesen wurde ein weiteres trauriges Symbol für die desolate städtebauliche Entwicklung der Nachkriegszeit und für politisches Versagen gleichermaßen.

Das Eckhaus an der Bahnhofstraße und der früheren Wolkengasse, heute Reichensand, wurde 1889 errichtet. Im Vorderhaus sowie in einem Nebengebäude hatte das Samenhaus Hahn seine Geschäftsräume. Im hinteren Teil, in Richtung Karstadt-Parkhaus, stand das letzte vom Krieg verschonte Biedermeier-Gebäude der Stadt von 1830, ein stattlicher als Lager genutzter Bau, dem man äußerlich sein Alter nicht ansah. Außerdem war dort ein Freigelände für den Pflanzenverkauf. Nur einen Tag nach dem Verkauf der Immobilie an einen stadtbekannten Immobilienkaufmann – manche sprachen von einem Immobilienhai – rückte der Bagger an und riss das Hinterhaus und die Nebengebäude nieder. Die wegen der vorangegangenen Ereignisse im Flutgraben ohnehin alarmierte studentische und außeruniversitäre Gießener Szene konnte nur noch zuschauen. Anders als zunächst offiziell dargestellt, hatte die Denkmalbehörde ihr Einverständnis zum Abriss nicht erteilt, ließ sie später wissen. Aber angeblich hatte die Polizei vor einer bevorstehenden Besetzung gewarnt. Grund genug wiederrum für Oberbürgermeister Hans Görnert, in dem viele wenig mehr als einen politischen Grüßaugust sahen, schnell zu handeln und dem Käufer hemdsärmelig den Abriss des Anwesens zu genehmigen.

FOTOS: ARNO BAUMGÄRTEL, 1981

Die Brachfläche am Reichensand diente dem Neu-Eigentümer zeitweise als gebührenpflichtiger Parkplatz, was ihm dann verboten wurde. Viele politische und juristische Auseinandersetzungen später wurde das stehen gebliebene leere Vorderhaus unter Denkmalschutz gestellt. Viel mehr Substanzielles passierte nicht. Politische Mehrheiten, Magistrate verschiedener Couleur kamen und gingen. Gern beklagt wurde immer bei Sonntagsreden, was vorgefallen war. Letzten Endes saß der Immobilieneigentümer die Angelegenheit dank des gnädigen Nichthandelns der Stadt über Jahre hinweg aus, bis das Vorderhaus nicht mehr zu retten war und 2012 abgerissen wurde.
Nach einer längeren Hängepartie mit dem inzwischen verantwortlichen Sohn des Immobilienkaufmanns über dessen Bauvorhaben und Nutzungsabsichten wurde das Grundstück seit 2021 neu bebaut und steht aktuell kurz vor der Fertigstellung. Die 3D-Ansicht von 2020 ist insoweit überholt. Die Fassade des Samen-Hahn-Eckhauses wurde dabei mittels einer "Inverstechnik" annähernd nachgestaltet.

Das digitale Abbild der Stadt Gießen im Mesh-Format basiert auf Daten der Luftbildbefliegung im März 2020. Vermessungsamt Gießen

Juni 2023

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