F wie Fälschung Der Kreuzplatz "am Tag danach"

Was tun, wenn es von historischen Ereignissen weder bewegte noch stehende Bilder gibt? Inzwischen scheint es zum Standard des Geschichtsentertainments im Fernsehen zu gehören, historische Ereignisse mittels hölzerner Spielszenen nachzustellen. Während für geschichtliche Großereignisse große Summen für die Re-Imaginierung investiert werden, muss man sich bei lokal begrenzten mit weitaus weniger bescheiden. Was also tun, wenn vom "Untergang des alten Gießen" keine Bilder überliefert sind? Oder gibt es doch welche?

Das sicher bekannteste Foto zeigt die Südseite des Kreuzplatzes am Tag nach dem vernichtenden Luftangriff am Nikolaustag 1944. Die Trümmer sehen "frisch" aus, im Hintergrund scheint noch Rauch aufzusteigen. Die technische Qualität des Fotos ist recht bescheiden, es scheint kein Original zu sein, sondern eine schon gerasterte Reproduktion, die später erneut kopiert wurde. Der Mangel an Detailschärfe und die in ungewissem Dunkel verschwimmenden Bildelemente müssen bei einem ambitionierten Betrachter den dringenden Wunsch ausgelöst haben, das Bild zu "verbessern". Unscharfe Details wurden zeichnerisch nachgeschärft, vorhandene Elemente herausgearbeitet und aufgehellt, und nach Ansicht des Retuscheurs offenbar unerlässliche Details wurden hinzugefügt, um die Auswirkungen der Bombardierung noch eindringlicher sichtbar zu machen: heraushängende Fensterrahmen und Vorhangreste sowie Löcher in Wänden und Dächern, die es im Original nicht gibt.

Es gibt anscheinend nur dieses eine Foto, und dass es überhaupt existiert, ist dem Mut des Fotografen zu verdanken, der das ungeheuerliche Ereignis auf ein Bild bannen wollte, obwohl dies bei Strafe verboten war. Gießen stand nicht erst am 6.12.1944 auf der Liste alliierter Bomberziele. Das Originalfoto entstand nicht am 7.12. sondern bereits am 5.12.1944, also einen Tag vor dem letztlich verheerendsten Angriff. Die Fotografie stammt von Pepi Mohr, und der Abzug ist nur erhalten geblieben, weil er ihn Otto Winterhoff geschenkt hat, bevor man ihm in einem späteren Strafverfahren den Film und alle Abzüge abgenommen hat.

Quelle: Bildunterschrift in: Karl-Heinz Brunk (Hg.), Schönes Gießen, Selbstverlag, 1996, Seite 12. Das retuschierte Foto wurde nachweislich publiziert auf Peter Schlagetter-Bayertz Website über Gießen, unter http://schlagetter-p.de/ansicht_detail/detail_361.html sowie in der Veröffentlichung "Deutschland baut auf. Giessen. Dokument des Lebenswillens einer deutschen Stadt." Hg. Magistrat der Stadt Gießen, Kuwe Verlag, Hanau 1952.

Auf der Basis eines Beitrags von Gunter Klug

Juni 2023

 

Flucht über die Sachsenhäuser Brücke

Inhaltsübersicht