F wie Fälschung 6. Dezember 1944: Flucht über die Sachsenhäuser Brücke

Sehr dramatisch kommt dieses Bild daher, zeigt es doch angeblich die Stadt während des Luftangriffs am 6. Dezember 1944, was ihm ein Alleinstellungsmerkmal verleiht. Laut Bildunterschrift ist die Aufnahme "eine Rarität: Menschen flüchten vor dem Flammeninferno und Feuersturm über die Lahnbrücke nach Heuchelheim. Im Hintergrund das brennende Gießen mit einem feuerroten Himmel, der so hell war, dass man die Zeitung hätte lesen können."

Die Beschreibung der Ereignisse ist historisch überliefert und insoweit korrekt. Dass der Himmel an dem Tag feuerrot war, dürfte unbestritten sein. Und doch, es handelt sich um ein Schwarzweißfoto, und die Farbe des Himmels ist nicht wirklich zu sehen. Aber das ist nicht das einzige Problem hier mit dieser recht mangelhaften Fotografie. Betrachtet man das Bild genauer, sieht man im Hintergrund zwar etliche Menschen, aber die sehen nicht aus, als ob sie es besonders eilig hätten. Im Vordergrund erkennt man Kinder, die offenbar Zeit hatten, ihre sonntäglichen Matrosenanzüge anzuziehen und die dabei sind, sich in Richtung Stadt zu bewegen. Dahinter eine gut erkennbare, aus drei Personen bestehende Gruppe, die eher gemächlich nebeneinander gehend auf die Kamera zukommt. Die Bäume auf dem Foto stehen, für Dezember recht ungewöhnlich, in vollem Laub, während die "brennende Stadt" aus Richtung Osten lange Schatten quer über die Rodheimer Straße wirft. Und der im Hintergrund sichtbare Stadtkirchenturm hat offenbar noch nichts abbekommen.

Es ist dieser Moment, in dem man registriert, dass das Foto gespiegelt ist, denn der Kirchturm sollte auf der anderen Seite der Brücke zu sehen sein, und Schatten von Osten sieht man in Gießen eher selten. Und so entpuppt sich diese "Rarität" als deutlich älteres Sommerabendbild mit Spaziergängern, die möglicherweise von einer Festivität am Oswaldsgarten kommen. Ob der tatsächlich dramatisch wirkende Himmel eine fotografische Zufälligkeit ist oder ob hier nachgeholfen wurde, muss dahingestellt bleiben. Es gibt eine zweite Aufnahme mit einem ganz ähnlichen Motiv und nicht gespiegelt, die offenbar mit ein paar Jahren Abstand gemacht wurde, aber gleichwohl illustriert, dass diese Art Ansicht der Sachsenhäuser Brücke auf der Motivliste der Postkartenfotografen stand. Was sich der Urheber dabei wohl gedacht hat?

Veröffentlicht in Peter Sattlers "Gießen – Stadt im Wandel 1933 – 2007", Seite 22

Auf der Basis eines Beitrags von Gunter Klug

Juni 2023

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