Autobahnzubringer ins Stadtzentrum?

Der Bau von Gießens zweiter innerstädtischer Lahnbrücke wurde 1968 beschlossen, 1971 wurde die Konrad-Adenauer-Brücke eingeweiht. Diese Lahnbrücke geht in die Gabelsberger Straße über. Einige Meter weiter trifft sie auf den innerstädtischen Anlagenring. Der Autoverkehr nahm über die Jahrzehnte immer mehr zu, und ihr Zustand wurde immer maroder. Am 22.10.2022 wurde sie für Fahrzeuge mit mehr als 3,5 Tonnen gesperrt, und die Fahrbahnen wurden auf 2,10 m verengt. Der Abriss und ein Neubau ist seit Jahren im Gespräch. So weit die dürren Fakten.

Die Adenauerbrücke ist Teil eines schon in den frühen 60er Jahren geplanten Systems von Autobahnen, Schnellstraßen und deren Zubringern und Tangenten, die, wenn alle Pläne realisiert worden wären, die Innenstadt an mehreren Stellen durchschnitten hätten. Außer dem Ende der 70er Jahre fertig gestellten Gießener Ring (Autobahn und Bundesstraße) zeugen nie verwirklichte Pläne und einige Innenstadtstraßen von dieser Schreckensvision:

· Das Lahnzuflüsschen Wieseck sollte im Bereich der Löber- und der Lonystraße zur Schaffung von Parkplätzen verrohrt werden.
· Das Brückenbauwerk über den Gießener Ring beim Zusammentreffen von Rödgener und Grünberger Straße ist seit Bestehen nur zweispurig im Gebrauch, deutet aber den einmal geplanten vierspurigen Ausbau der Rödgener Straße mit Ringanschluss an.
· Die überbreit ausgebaute Sudetenlandstraße wäre Teil einer vierspurigen West-Ost-Querverbindung geworden.
· Die Frankfurter Straße ist von der Abzweigung Kleinlinden bis zur Schubertstraße vierspurig ausgebaut worden. Im weiteren Verlauf wäre sie als Hochstraße über die Bahngleise geführt worden, um an der Bleichstraße in den Anlagenring einzumünden.
· Das Gießener "Wahrzeichen" Elefantenklo ist ebenfalls ein Baustein - und Relikt - dieser Stadtplanung aus der Windschutzscheibenperspektive, wo nur umsatzbringende Kaufhausbesucher, aber keine Innenstadtbewohner mehr vorgesehen waren.

Im Lauf der Jahre kam es wiederholt zu Diskussionen über den Abriss und die Verbreiterung der Brücke auf vier Spuren, substanziell erhalten wurde sie dagegen nicht. Irgendwann in den frühen 80er Jahren hatte die Stadt einige Fuhren Erdaushub übrig, die in Fahrtrichtung Innenstadt rechts der Fahrbahn abgelagert wurden (auf dem Foto unten deutlich zu sehen); sozusagen als Vorgriff auf die geplante Dammerweiterung, wie es in der Presse hieß. Doch die steht bekanntlich immer noch aus.

STRASSENDAMM-VERBREITERUNG VOR DER KONRAD-ADENAUER-BRÜCKE

2022 beschloss das Stadtparlament (erneut) die Brückenverbreiterung. Und nur zaghaft erhebt sich Kritik an den über 30 Jahre alten Plänen aus der Zeit der autogerechten Stadtplanung und natürlich, weil die Brücke nun allmählich baufällig zu werden und damit die Komplettsperrung droht. Wer kann da schon nein zu der Planung sagen? Um nun den alten Hut der mittlerweile ergrünten Stadtpolitik schmackhaft zu machen, sieht die Logik der elektrischen oder auch sonstwie automobilen Straßenverkehrsplanung nun zwei Fahrspuren in jede Richtung vor, plus getrennt davon an den Seiten Fahrrad- und Fußwege, vielleicht ja auch mit Solarpaneelen an den Geländern. Die Konsequenz ist klar: Straße bleibt Straße. Der so geschaffene Rüssel eines Autobahnzubringers endet an der Westanlage des innerstädtischen Rings und wird mehr statt weniger Verkehr in die City schaufeln.

Nach dem Zeitungsartikel "Wird neue Lahnbrücke in Gießen multifunktional genutzt?" in der Gießener Allgemeinen am 17.06.2022 schrieb dieser Autor in seiner Leserzuschrift:

Seltsam ruhig ist es, wenn es um eins der größten innerstädtischen Verkehrsprojekte der letzten zwanzig Jahre geht: die Erneuerung der Adenauerbrücke. Verkehrswendeaktivisten scheint die 30 Jahre alte Planung eines viersprurigen Autobahnzubringers an den Anlagenring nicht sonderlich zu stören, Hauptsache, sie bekommen einen überflüssigen  Verkehrsversuch. Wenn der Artikel korrekt wiedergibt, war Jan Fleischhauer vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub der Einzige, der "vorsichtig Bedenken" angemeldet hat. Bürgermeister Wright hat das Vorhaben politisch nicht zu verantworten, aber bestimmt wird er das Projekt mit (Zitat) "Charme" durchzusetzen haben wie Hessens Obergrüner Tarek Al-Wazir den Bau der A49. Er spricht wolkig von einer "multifunktionalen" Aufteilung des Verkehrsraums und lässt sich dabei das Wort von Straßenbauern in den Mund legen. Wenn der motorisierte Individualverkehr mehr Fläche bekommt, ist es immer multifunktional: zwei Fahrspuren in jede Richtung, vielleicht eine Busspur, schöne Fahrradwege links und rechts und etwas Straßenbegleitgrün dazu. War es nicht das Ziel der Verkehrswende, weniger Autoverkehr (Verbrenner wie E-Mobile) in die Stadt zu bringen und vor allem das Busliniennetz sowie die Taktung ganz neu zu sortieren? Für Amtsleiter Ravizza ist natürlich alles klar: Durch die vier Spuren soll der Verkehrsfluss gewährleistet werden. Werden wir sähen: Straßen, und Verkehr ernten.

Nach dem Scheitern des lange geplanten und Anfang September, mitten in der Aufbauphase gerichtlich gestoppten Verkehrsversuchs, der eine Einbahnregelung auf dem Anlagenring vorsah, sind die Aussichten für entweder die Instandsetzung oder den Komplettneubau der Brücke ungewisser als vorher. Kommt es noch zu Umplanungen, wird ein Kreisverkehr als Verteiler auf Höhe der Lahnstraße gebaut? Damit verbunden wäre das wichtige Projekt Überland-Busbahnhof auf der Westseite des Bahnhofgeländes samt der Fortsetzung der Fußgängerunterführung unter den Gleisen; ungewiss, unsicher.

Juni/September 2023

Das digitale Abbild der Stadt Gießen im Mesh-Format basiert auf Daten der Luftbildbefliegung im März 2020. Vermessungsamt Gießen

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