F wie Fälschung Gleisänderung im Seltersweg

Die Berufe "Postkartenfotograf" und "Postkartenmaler" waren sicher einmal identisch. Viele Ansichtskarten aus der Zeit der Jahrhundertwende und danach weisen Retuschen der einen oder anderen Art auf. Was der Fotograf nicht auf seinem langweiligen Bild hatte oder was mangels ausreichender Beleuchtung unsichtbar war, wurde hinzu- oder ausgemalt.

Aufnahmen von der Südseite des Kreuzplatzes gibt es viele aus verschiedenen Jahrzehnten. Diese mit dem handschriftlichen Datum "25.7.1910" versehene Aufnahme weicht deutlich ab vom bekannten Stadtbild an dieser Stelle. Zum einen sind die Linien des Gehwegs vor dem Geschäft von Gustav Geisse an der Ecke Kaplansgasse (im Bild rechts hinten) und auf der gegenüber liegenden Straßenseite stark nachgezeichnet. Auch die Umrisse der zwei Jungs mitten auf der Straße sehen nachgezeichnet aus, wenn nicht beide komplett gezeichnet sind. Überhaupt sieht der Seltersweg wie ein Trichter aus, der Straßenverlauf scheint einen Knick zu machen. Die Straßenbahnschienen sind auch nicht da, wo sie in der Realität waren, vom Betrachter aus gesehen links im Seltersweg, sondern in der Straßenmitte. Und auch die Schienen machen den Eindruck von Strichzeichnung.
Da stellt sich die Frage, ob denn wenigstens die Straßenbahn echt ist oder auch in das Bild hineinmontiert wurde. Mit Vorbehalt: Sie wirkt echt. Der Wagentyp mit den Doppelleuchten entspricht dem damals hier gebräuchlichen. Wenn das handgeschriebene Datum korrekt ist, war die Straßenbahn in Gießen gerade ein gutes halbes Jahr in Betrieb und somit eine Attraktion. Hinter dem Straßenbahnwaggon bis zur Einmündung des Selterswegs ist der Straßenbelag sehr hell, vielleicht lag er im Licht. Doch er wirkt geglättet und sehr künstlich. Bei der Retusche ist der Fahrdraht der Bahn auf Höhe des zweiten Stocks am Haus Geisse gekappt worden. Den Gesamteindruck störende Details wie dieses wurden auch auf vielen anderen Ansichtskarten entfernt.

Bei dieser Betrachtung darf aber nicht vergessen werden, dass der Seltersweg damals alles anderes als geradlinig verlief. Es gab Ecken und Kanten, nämlich Hausvorsprünge und Knicke im Verlauf. Und auch die verzerrte Perspektive kann eine Rolle spielen. Es lässt sich nur mutmaßen, vielleicht war der Anblick des Selterswegs wenig vorzeigbar. Das zusammen mit dem unecht aussehenden Straßenbelag und der seltsamen Fortsetzung des Selterswegs spricht dafür, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht.

Juni 2023

 

Das schwebende Auto

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